Der heutige Rundwanderweg 29 wurde 1973 als „Waldwander-, Waldlehr- und Gymnastikpfad für Blinde und Sehende“ eröffnet. Er war der Erste seiner Art in Deutschland. Von den früheren Installationen ist seit längerem aber nur noch das den Weg kennzeichnende und als Orientierungshilfe dienende Holzgeländer übrig.
Auf dem zwei Kilometer langen Rundweg durch den Kasseler Habichtswald gibt es sieben Bänke unterschiedlicher Qualität, uralte Hutebäume, einen verwunschenen „Märchenbaum“, einige Pferde, eine Hühnerschar, einen natürlichen Wasserspielplatz (ideal für Kinder und Hunde), den Geilebach mit zwei kleinen Holzbrücken darüber, eine Schutzhütte und eine Unterführung zum Unterstellen bei Regen. Aufgrund der Nähe zum Wohngebiet ist der Pfad bei vielen Spaziergängern sehr beliebt. Er befindet sich circa 200 Meter nördlich des Wanderparkplatzes „Bergfreiheit“ (Künstlernekropole) am Ende der Ahnatalstraße und östlich des Erlenlochs. Man erreicht ihn auch zu Fuß über das Ende des Buchenwegs oder über den Spazierweg, der am Ende der Straße Am Hilgenberg beginnt und entlang des Geilebachs unter der Rasenallee hindurchführt.
Als blinder Mensch kann man auf diesem Waldpfad spazieren gehen, indem man den Blindenstock über das Holzgeländer gleiten lässt. Auf diese Weise kann man dem Weg sicher und entspannt folgen und alleine und unabhängig die Waldatmosphäre genießen. Schlammlöcher, Herbstlaub, Schnee und auch die von Wildschweinen auf den Pfad geschobenen Erdhaufen verursachen keine Orientierungsprobleme. Außerdem bekommt man mit, wo abzweigende Wege und Sitzbänke sind. Das Geländer ist aber auch für Menschen mit Sehbehinderung, geschwächter Konstitution, beginnender Demenz und anderen Orientierungsschwierigkeiten hilfreich. Es ermöglicht vielen, Wald angstfrei erleben zu können. Für Menschen mit einer Gehbehinderung oder unsicherem Gang ist der Rundweg aufgrund von Steigungen und einzelnen waldtypisch unebenen Stellen aber eher ungeeignet.
ÖPNV-Anbindung
Neben der mit einem Anrufsammeltaxi erreichbaren und sich in direkter Nähe des Blindenpfads befindlichen Bushaltestelle „Blindenheim“ in der Eschebergstraße bietet die Bushaltestelle „Seebergstraße“ in der Ahnatalstraße Ecke Klinikstraße eine weitere Möglichkeit mit dem ÖPNV zum „Blindenpfad“ zu kommen. Direkt dort gibt es auch eine Fußgängerampel mit Signalton. Eine Wegbeschreibung, mit der man auch als Blinder Mensch etwas anfangen kann, ist in Arbeit, ein Podcast mit einer beschreibenden Live-Begehung ist angedacht. Hier schon mal ein Anfang:
Direkt nach dem Ausstieg an der Bushaltestelle in der Ahnatalstraße beginnt der entspannende Teil der Anreise. Ein circa zehnminütiger Spaziergang, zuerst in nördlicher Richtung auf einem asphaltierten Fußweg über eine Wiese, danach auf Bürgersteigen durch ein idyllisch ruhiges Wohngebiet. Insgesamt muss man nur einmal abbiegen und befindet sich dann schon am Rand des Waldes. Dort führt ein Wanderweg entlang des Geilebachs direkt unter der Rasenallee hindurch, wo der Blindenpfad beginnt. Ab hier gibt es ein Holzgeländer als Orientierungshilfe, mit dem blinde Menschen sich mittels ihres weißen Langstocks sicher über den waldtypischen Rundwanderpfad führen lassen können. Aktuell fehlt aber leider ein großer Teil dieses Leitsystems. Den Weg zum Blinden-Waldwanderpfad und die Benutzung der hölzernen Orientierungshilfe kann man übrigens auch mit einer Mobilitätstrainerin einüben.
Geschichte
Der Blinden-Waldwanderpfad wurde 1973 vom damaligen Leiter des Forstamts Kassel-Wilhelmshöhe, dem 2016 verstorbenen Claus Eichel, Bruder des Politikers Hans Eichel, auf Anregung von Förster Herbert Bachmann initiiert. Claus Eichel engagierte sich später auch bundesweit für barrierefreie Wanderwege. Unter anderem dafür wurde ihm 1998 das Bundesverdienstkreuz verliehen. 2017 wurde einer seiner barrierefreien Wanderwege in Kassels Partnerstadt Arnstadt nach ihm benannt. Eigentlich müsste man auch in Kassel an ihn erinnern, beispielsweise indem man dem Blindenpfad nach ihm benennt. Schließlich war dieser Pfad Claus Eichels allererster Wanderweg für behinderte Menschen und der Erste seiner Art in ganz Deutschland überhaupt! Heutzutage ist Barrierefreiheit ein wichtiges Thema, damals war es das noch nicht. Kassel kann stolz auf seine Vorbildfunktion sein. Der Pfad ist ein Stück deutscher Inklusionsgeschichte.
Er war der Erste seiner Art – dann sollte er sterben
Am 20.07.2020 wurde plötzlich ein Teil des voll funktionsfähigen Leitgeländers abgebaut. Auf Nachfrage hin kündigte der Geschäftsführer des Naturparks an, dass auch der Rest der Orientierungshilfe bald entfernt würde. Begründet wurde das mit dem Risiko aufgrund der trockenheitsbedingten Waldschäden und den hohen Kosten für Baumsicherungsmaßnahmen. Mittels einer Petition an den Hessischen Landtag konnte der Komplettabbau aber gerade noch verhindert werden. Bei einem Ortstermin mit dem Petitionsausschuß und einem Vertreter des zuständigen Ministeriums wurde die umstrittene Verkehrssicherungspflicht am 20.7.2021 dann endlich geklärt. Auf der nachstehenden Seite gibt es neben der Petitionsbegründung auch Infos zu Medienberichterstattung und politischen und gesellschaftlichen Reaktionen:
Drohendes Aus für Deutschlands ältesten Blinden-Waldwanderpfad? (Artikel auf dubistblind.de)
Was ist der Kern der „Blindenpfad“-Problematik? Was genau ist die Orientierungshilfe und was ist sie nicht? Warum begründet ihre Existenz keine erhöhte Verkehrssicherungspflicht und keine besondere Baumsicherungspflicht? Was sagen Juristen und Experten? Was ist das Zwei-Sinne-Prinzip? Antworten gibt es auf harleswald.de/blindenpfad/orientierungshilfe.
Kommentar von Per Busch
Seit 2001 habe ich mich als freiwilliger „Wegewart“ um diesen Rundweg gekümmert. Ich habe kaputte Teile des Geländers stets so hingelegt, dass sie keine Gefahr darstellten und auch am Boden noch als Leitlinie dienen konnten. Dem Förster habe ich die über den Weg gestürzten Bäume gemeldet und große Äste, überhängende Zweige und Matschlöcher selbst beseitigt. Es traf mich hart, dass der Blindenpfad plötzlich sterben sollte.
Nachdem ich 1993 erblindete, war mein größter Traum, mich wieder alleine und unabhängig in der Natur bewegen zu können. Wenn ich nicht seit 2001 täglich mit Hilfe des Geländers auf dem Blindenpfad durch den Wald gegangen wäre, hätte ich diesen Wunsch vielleicht einfach vergessen. So aber wuchs meine Liebe für den Wald und die langen Spaziergänge darin beständig. Ich war immer etwas neidisch auf die sehenden Spaziergänger, die überall frei umherlaufen konnten und nicht wie ich auf den Blindenweg beschränkt waren. Das hat in mir den Wunsch verstärkt, mich genauso frei im ganzen Wald bewegen zu können. 2011 wurde mein Traum dann wahr. Das hat meine Lebensqualität enorm verbessert!
Wie hier beschrieben, kann ich heutzutage durch den ganzen Harleshäuser Habichtswald wandern. Ich kenne dort alle Wege und Pfade, mindestens 30 Kilometer insgesamt, und kann mich meist relativ gut mit dem Blindenstock und einer App auf meinem iPhone orientieren. Ich fühle mich unabhängig, begegne anderen Menschen auf gleicher Augenhöhe und vergesse oft, dass ich blind bin. Viele meiner heutigen Aktivitäten wären ohne den Blinden-Waldwanderpfad nicht denkbar, auch nicht die Harleswald-Website.
Für mich ist der Blindenpfad das Tor zum Wald! Das Leitsystem sollte erhalten bleiben, auch für andere orientierungsbenachteiligte Menschen.
Der „Blindenpfad“ wirkt wie ein Flaschenhals. Er ist der einzige sichere Zugang zum barrierefreien Wegenetz im restlichen Wald. Er erfüllt eine Brückenfunktion. Der überwiegende Teil des Wegs würde für mich ohne die Orientierungshilfe aufgrund von Herbstlaub, Matsch, Schnee oder Eis an vielen Tagen nicht mehr begehbar sein, und dass, obwohl ich mich auf vielen anderen Waldwegen ansonsten gut orientieren kann. Ich wäre bei entsprechend schlechten Bedingungen auch nicht mehr in der Lage, die von mir 2012 gesponserte Bank am Geilebach aufzusuchen. Ich würde diesen direkt am Waldrand gelegenen Weg trotzdem versuchen zu gehen, so wie ich es die letzten 20 Jahre gemacht habe, auch wenn es ohne die Orientierungshilfe wesentlich schwieriger und auch gefährlicher wäre. Mir bliebe gar keine andere Wahl, wenn ich auch weiterhin in den Wald wollte.
Wie ich die ertastbare Wegmarkierung als blinder Spaziergänger benutze, kann man in diesem HR-Beitrag vom 10.09.2020 sehen. Abschließend noch ein Zitat aus einem FAZ-Artikel:
Anfang der siebziger Jahre, als der damalige Forstamtsleiter Claus Eichel den Blindenpfad eröffnete, sei von Inklusion noch keine Rede gewesen, sagt Busch: „Da war das Denkmodell: Um Behinderte wird sich gekümmert, Behinderte werden versorgt, aber Behinderte machen selber nichts.“ Eichels Handeln sei für die damalige Zeit visionär gewesen.
Wem nützt das Geländer?
- Die Orientierungshilfe ermöglicht es vielen, Wald und Natur angstfrei erleben zu können.
- Blinde Menschen können ihren Blindenstock über das Geländer gleiten lassen und so sicher und entspannt ihren Weg finden.
- Sehbehinderte bzw. sehr schlecht sehende Menschen können sich mit ihrem Sehrest am Geländer als optischer Leitlinie orientieren und durch fehlende Stücke leichter die abzweigenden Wege bemerken, auch bei für sie ungünstigen Lichtverhältnissen.
- Menschen mit schlechtem Orientierungssinn oder beginnender Demenzerkrankung bekommen die Sicherheit, sich nicht so einfach verirren zu können und wieder aus dem Wald herauszufinden. „Ich gehe immer den Blindenweg, weil ich mich dort nicht verlaufen kann“ ist eine erstaunlich häufige Aussage.
- Im Winter dient der Handlauf allen Spaziergängern an vereisten Stellen als Haltemöglichkeit.
Artikel in der HNA
Der Kasseler Blindenpfad bleibt jetzt doch
22.7.2021
Überraschende Wende für den Blindenwanderweg im Naturpark Habichtswald: Das hölzerne Geländer, die Orientierungshilfe für blinde und sehbehinderte Menschen, soll nun doch erhalten und instandgesetzt werden. Das hat Uwe Schmal, Referatsleiter im Hessischen Umweltministerium, jetzt bei der Besichtigung des Pfades durch Mitglieder des Landtags-Petitionsausschusses sowie Vertreter vieler anderer beteiligter Institutionen klargestellt. Seinen Namen wird der Pfad aber verlieren.
Weiterlesen bei der HNA
Abbau des Blindenpfads wird zum Streitfall
8.9.2020
Die Naturparkverwaltung, der zuständige Stadtbaurat und die umweltpolitische Sprecherin der Grünen Rathausfraktion weisen die Kritik am Abbau des Blindenpfads zurück. Ein Betroffener lässt die umstrittene Haftungsfrage und tatsächlich geltende Verkehrssicherungspflicht mittels einer Petition an den Landtag klären, Kasseler Parteien und Beiräte üben Kritik. „Ich finde es schade, dass der Blindenpfad jetzt anscheinend für einen verfrühten Wahlkampf benutzt wird“, meint Per Busch. „Dafür eigne sich die Angelegenheit nicht. Und das habe sie auch nicht verdient.“
Weiterlesen bei der HNA
Naturpark Habichtswald baut überraschend Blindenpfad ab
30.07.2020 – Überraschendes Aus für den Kasseler Blindenpfad
Der Naturpark Habichtswald baut bereits das Geländer ab. Die Entscheidung stößt bei Nutzern des Weges in Harleshausen auf Kritik. Mit dem Abbau des Geländers, an dem sich Blinde per Stock auf dem Waldweg orientieren können, ist vergangene Woche begonnen worden. Für die Entscheidung führt Naturpark-Geschäftsführer Jürgen Depenbrock unter anderem die zunehmenden Schäden und Gefahren im Wald sowie die dadurch drohenden Verkehrssicherungspflichten an. Nutzer des Blindenpfads, allen voran der Harleshäuser Per Busch, kritisieren das plötzlich beschlossene Aus.
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Zerstörungswut gefährdet Erhalt von Kasseler Blindenpfad
19.05.2017 – „Der aktuelle Vandalismus ist eine völlig neue Dimension“
Der 1974 eröffnete Kasseler Blindenpfad galt bundesweit als Vorbild. Zunehmende Zerstörungen stellen den Erhalt jetzt allerdings in Frage. Der Naturpark Habichtswald kommt mit der Reparatur nicht nach.
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Wanderweg für Blinde
HNA, Kasseler Stadtausgabe, 17. Mai 1973
Hier darf nicht geritten und hier dürfen keine Hunde ausgeführt werden. Auch Radfahren ist verboten. Trotzdem ist der zwei Kilometer weite Rundweg Im Harleshäuser Wald nicht für eine geschlossene Gesellschaft gedacht. Ganz im Gegenteil, die Sehbehinderten, die sonst im Wohnheim an der Eschebergstraße leben, sollen auf dem ersten Blindenwanderweg in Hessen nicht alleiniges Spaziergehrecht genießen, auch wenn der Weg extra für sie beschildert und gesichert wurde.
Leitbarrieren, Geländer, eine Schutzhütte, sowie Lehrpfadschilder in Blindenschrift und eine Wassertretstelle sind die Besonderheiten dieses Rundweges. Kostenpunkt: 17700 Mark. In Zusammenarbeit mit der Stadt Kassel setzten das Forstamt Wilhelmshöhe, der Zweckverband Naturpark Habichtswald, der Blindenbund sowie der Feldwegezweckverband des Großkreises Kassel die Idee, weitere Erholungsmöglichkeiten für Behinderte zu schaffen, auch für die Blinden in die Tat um. Oberforstmeister Claus Eichel: „Wir werden natürlich versuchen, möglichst alle Gefahrenquellen auszuschalten.“ Gemeint sind Regenpfützen und brüchige Baumäste, die dem blinden Spaziergänger zum Hindernis werden können.
Einen weiteren guten Beitrag leisteten das Forstamt Wilhelmshöhe, der Naturpark-Zweckverband Habichtswald und die Stadt Kassel am Geilebach in der Harleshäuser Flur. Die neue Wassertretstelle wurde jetzt fertiggestellt. Zusammen mit einer weiteren derartigen Einrichtung an der Prinzenquelle, die kürzlich ihrer Bestimmung übergeben wurde, wird damit im stadtnahen Erholungsbereich des Habichtswaldes ein weiteres reizvolles Freizeitangebot gemacht.
Blindenpfad wird ausgebaut
HNA, Kasseler Stadtausgabe, 20. März 1974
Durch Trimmgeräte, Waldsportpfadschilder in Blindenschrift und weitere Leitplanken soll der Blinden-Wanderpfad im Staatsforst Wilhelmshöhe im Mai dieses Jahres weiter ausgestattet werden. Die Kosten dafür — nach Angaben von Oberforstmeister Claus Eichel, Leiter des Forstamts Kassel, rund 5000 DM — werden zum größten Teil vom hessischen Minister für Landwirtschaft und Umwelt als Landeszuwendung an den Kasseler Blindenbund bereitgestellt.
Der 2,2 Kilometer lange Rundweg, der vom Blindenalten-wohnheim in Harleshausen ausgeht und durch den Wald in Richtung Erlenloch führt, wurde im Mai 1973 als einmalige Einrichtung in Deutschland für rund 17 000 DM eingerichtet. Der Wanderpfad für Blinde ist nach Angaben Eichels nur als ein Bestandteil des Gesamtprogramms für behinderte Menschen in Kassel zu sehen. So wurde bereits ein Teil des Weges für Körperbehinderte bei den Elfbuchen fertiggestellt. Im vorigen Jahr konnten zudem Schwerbeschädigten-Parkplätze im Naturpark Habichtswald geschaffen werden.
Wie Eichel aus Erfahrung berichten kann, wird der Blinden-Wanderpfad nicht nur von Kasselern, sondern auch von auswärtigen Gästen in starkem Maße genutzt. Als besonders positiv vermerkt er, dass hier in der Vergangenheit keine Zerstörungsaktionen vorgenommen wurden. „Man nimmt Rücksicht.“ Um die blinden Menschen auf dem Wanderpfad auch in Kontakt mit sehenden Kasselern kommen zu lassen, sollen die für Mai vorgesehenen Waldsportpfadschilder nicht nur in Blinden-, sondern auch in Klarschrift aufgestellt werden.
(Quellen zu Claus Eichel: 1 2 3 4)
** geschrieben und zusammengestellt von Per Busch, veröffentlicht im Juni 2019, seitdem mehrfach überarbeitet **