„Familien können Kaffee kochen“

(Copyright Ekkehart Bippig, 2006, Autor)

Selbstverständlich , so denkt man heute, können Familien Kaffee kochen. Gibt es doch die diversesten Maschinen oder Filtersysteme um das köstliche Getränk zuzubereiten. Auch mangelt es nicht an Kaffeesorten und Vorschlägen für eine genussvolle Geschmacksverfeinerung. In coffee shops bedarf es schon eines gewissen Sachverstandes, um aus der Karte für „heiße Getränke“ die individuelle Auswahl zu treffen.

Vor 50 oder 100 Jahren kam dem Satz aber eine ganz andere Bedeutung zu. In einem Restaurationsbetrieb, der das Schild „Familien können Kaffee kochen“ am Eingang ausgehängt hatte, konnten Familien ein Tütchen mit gemahlenem Malz- oder Bohnenkaffeepulver abgeben, das obendrein noch mit dem Namen des Gastes beschriftet war, damit wollte man gewährleisten, seinen eigenen Kaffee zu trinken und keinen „Familienverschnitt“. In der Gastwirtschaftsküche wurde dann das Pulver mit kochendem Wasser aufgebrüht und in großen Kannen zu den Gästen gebracht. Dabei war es wichtig, dass die beschriftete Tüte zwecks Identifizierung aus dem Ausgießer der Kanne herausschaute. Für den Service wurden den Gästen 10 Pfennige in Rechnung gestellt. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise änderten sich die Beträge jedoch oftmals täglich. Bei diesen Preisen mussten die Gastwirte ihren Verdienst durch Kuchenverkauf und den Ausschank von Bier und Spirituosen unbedingt aufbessern.

Das „Jägerhaus“ an der Rasenallee war seinerzeit ein bekanntes und beliebtes Ausflugslokal. Man erreichte es zu Fuß von Harleshausen aus oder nach einer Wanderung von der Hessenschanze, der Endhaltestelle der Straßenbahn. Erst in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann auch der motorisierte Ausflugsverkehr eine Rolle zu spielen.

Warme Sommertage bescherten oft den dringend erhofften Umsatz. Meine Großeltern, Wilhelm und Luise Bippig, die das „Jägerhaus“von 1909 bis 1947 führten, bewirtschafteten das Gast- und Pensionshaus vorwiegend mit Mitgliedern der Familie. Neben einigen tüchtigen Hausfrauen aus Harleshausen wurde meine Großmutter dabei teilweise von ihren 6 Geschwistern und deren Anhang unterstützt, die dann extra aus Hann. Münden anreisten.

Für besondere Veranstaltungen, Familienfeiern und den typischen Ausflugstagen wie Maifeiertag, Pfingsten, Himmelfahrt u.ä. war natürlich eine sehr umfangreiche logistische Planung notwendig. Neben der eigentlichen Gastwirtschaft standen noch Wintergarten, Veranda, zwei große Säle auf verschiedenen Etagen und eine weitläufige Gartenbewirtschaftung mit über 200 Plätzen zur Verfügung. Schließlich wollten alle Gäste bedient und unterhalten werden. Bei besonders starkem Besucherandrang im Garten musste die Bedienung Speisen und Getränke oft durch die Fenster reichen, da der Weg durch die Eingangstüren blockiert war. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich als kleiner Junge beim Abräumen des Geschirrs oft durch ein ebenerdiges Fenster kletterte, nur um besonders schnell zu sein.

Wenn das bei mir mehr unter einem sportlichen Aspekt stand, dann war die Jugendzeit meines Vaters doch Schwerarbeit; denn er hat mir oft erzählt, dass er als Schüler zum sonntäglichen Tanztee oder zu Festen am Samstag Abend Klavier spielen musste, begleitet von seinem Freund Willi Gunkel auf der Geige. Waren alle Plätze in den Sälen besetzt, dann musizierte das Duo sogar abwechselnd im ersten Stockwerk oder im Erdgeschoß. Bei diesem Arbeitseinsatz blieb am Wochenende oft keine Zeit zum Erledigen der Hausaufgaben. Da auch einige Gymnasiallehrer im „Jägerhaús“ öfters das Tanzbein schwangen, drückten sie dann am Montag bei ihrem Schüler Karl Bippig „ein Auge zu“. Später hat mein Vater als Konrektor der Schule Harleshausen in begründeten Fällen für seine Schüler viel Verständnis aufgebracht, wenn die Hausaufgaben mal nicht dem gewünschten Umfang entsprachen.

Aber nicht nur der personelle Einsatz musste bewältigt werden, Speisen und Getränke sollten ja auch ausreichend vorrätig sein. Da bis Anfang der Vierziger Jahre Kühlschränke oder Gefriertruhen noch unbekannt waren, konnten Nahrungsmittel nur begrenzte Zeit im kühlen Bierkeller gelagert werden. Als Kühlmittel dienten große Stangeneisblöcke, die die Vierspänner der Brauereien anlieferten. Im Keller wurde das Eis dann in großen mit Blech ausgekleideten Holzkisten zwischengelagert, um in zerkleinertem Zustand Bierleitungen und Töpfe mit Speisen oder Frischwaren zu kühlen. Nahrungsmittel ließen sich mit dieser Technik in Kellerräumen nur kurzfristig konservieren.

Sollte ein schönes Sommerwochenende dann wider Erwarten einmal völlig verregnet enden, und die erhofften Gäste blieben aus, dann lagerten im Keller oft große Blechkuchen. Da nichts umkommen sollte, gab es dann für die Familie für mehrere Tage zu allen Mahlzeiten Kuchen. Mein Vater hat oft seine Klassenkameraden mit Kuchen versorgt, nur damit man wieder zum normalen Speiseplan übergehen konnte.

Kurios ging es auch oft bei den Bierlieferungen zu. Unterhalb des Jägerhauses befand sich die Gaststätte „Zur Waldschänke“ Ahnatalstraße, Ecke Klinikstraße. Zufällig wurde sie auch von einer Familie Bibbig bewirtschaftet (Heinrich Bibbig, 7.9.1903 – 5.11.1956). Die Namenschreibweise war nur nicht identisch, obwohl die Familien weitläufig verwandt waren, schließlich stammten Bippigs und Bibbigs von ihrem Vorfahr Johann George Bippig, geb. 1763 in Greiz, ab. Da beide Gaststätten ihr Bier von der Brauerei Kropf bezogen, kam es oft vor, dass zwar das Bier in der „Waldschänke“ abgeladen, die Rechnung allerdings im „Jägerhaus“ zugestellt wurde. Bei der Bearbeitung der telefonischen Bestellung in der Brauerei („Bippigs“ in Harleshausen kriegen Bier) wurde der Name der Gaststätte nicht vermerkt, und mancher Bierfahrer, der Harleshäuser Verhältnisse unkundig, hielt mit seinem Pferdefuhrwerk lieber in der Ahnatalstraße an und ersparte so sich und den Tieren den steilen Anstieg zur Rasenallee. Die „Waldschänke“ wurde Anfang der Sechziger Jahre zu einem Seniorenheim umgebaut, nachdem die Erben von Heinrich Bibbig nach Kanada ausgewandert waren.

Bei Familien, Wandergruppen, „Kaffeekränzchen“ Ausflüglern und Sommerfrischlern war „Familien können Kaffee kochen“ sehr beliebt. Für wenig Geld konnte man Kaffee trinken, Milch und Zucker waren im Aufgusspreis sogar noch enthalten. Ärgerlich wurden die Großeltern aber dann, wenn die Gäste auch noch unverhohlen ihre eigenen Kuchenstücke oder Brote auspackten. So belegten 6 Personen oft für längere Zeit einen Tisch im Garten, beanspruchten Geschirr und Bedienung für einen oder zwei Groschen und trugen mit dazu bei, dass mancher Gast wegen fehlender Sitzmöglichkeit nicht einkehrte.

Außerdem musste die Bedienung noch sehr wachsam sein, dass nach Begleichung der „Rechnung“ mit den Gästen nicht auch noch Bestecke und Geschirr verschwanden. Diese Unsitte muss sich damals in den Ausflugslokalen bei großem Publikumsandrang zu so großen wirtschaftlichen Problemen ausgewachsen haben, dass sich die Wirte der Kasseler Ausflugslokale von der „Grauen Katze“ an der Fulda über das„Jägerhaus“ an der Rasenallee bis zum „Hohen Gras“ im Habichtswald darauf verständigten, besonders teure Ausrüstungsgegenstände zu kennzeichnen. Auf Bestecken wurde dann „gestohlen im …“ oder der Name des Gastronomiebetriebes unübersehbar eingraviert. Die Bestecke des „Jägerhaus“ wurden mit einem ziselierten „J“ versehen, das in einem Dreieck platziert war. Diese Maßnahmen sprachen sich schnell herum, niemand wollte zu Hause als Dieb angesehen werden. Das „Sammeln von Souvenir“ ging deutlich zurück.

Nach der Währungsreform war das Aushängeschild „Familien können Kaffee kochen“ in Ausflugslokalen kaum noch zu sehen. Wirte nahmen kein Kaffeepulver mehr entgegen. Bohnenkaffee wurde als Tassen- oder Kännchenportion serviert, das Kännchen Kaffee wurde nach 1949 zunächst für 1,60 DM verkauft, im Jahr 2006 zahlt man dafür teilweise bis zu 3,60 € (etwa 7,05 DM). Neben dem Zeitgeist hat sich auch der Geschmack der Konsumenten geändert. Heute ordert man „Cappuccino“, „Cafe latte“ oder schlicht „einen Kaffee bitte“.

Autor: Ekkehart Bippig, 29.01.2006

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