Die kaiserlichen Reitwege

Von Karl Bippig, veröffentlicht im Ossen, Heft 127 3/1995

Wir Alten, die wir das Ende des Wilhelminischen Zeitalters und die Beendigung des 1. Weltkrieges miterlebt haben, können uns noch gut an die drei Reitwege am Ostabhang des Habichtswaldes erinnern, die zuvor oft von der kaiserlichen Familie genutzt wurden. Die Reitwege als Namen sind in unserem heutigen Harleshäuser Sprachgebrauch nach 70 Jahren nicht mehr geläufig. Ihre Bedeutung soll deshalb für unsere Harleshäuser Heimatgeschichte aufgefrischt werden.

Der erste Reitweg beginnt am Jugendwohnheim der Stadt Kassel an der Rasenallee, schlängelt sich in nordwestlicher Richtung am neuen Wasserbehälter vorbei zur Ahnatalstraße, auf der man dann bis zum Gasthaus Ahnatal reiten konnte. Die Ahnatalstraße hieß damals Wolfhager Straße. Da die neue Wolfhager Straße erst vor einem guten Jahrhundert gebaut wurde, reden wir heute immer noch von der „alten“ und der „neuen“ Wolfhager Straße.

Das kurze Stück des ersten Reitweges zierten zu beiden Seiten prächtige Eichen, von denen einige noch in unseren Tagen zu bestaunen sind. Das Vorgelände des Habichtswaldes, durch das sich der erste Reitweg hindurchzog, zählten unsere Vorfahren zu ihrem Hutegebiet; hier hüteten die Jungen das Rindvieh und die Schafe des Dorfes.

Der zweite Reitweg hat seinen Anfang an der Kreuzung der Schanzenstraße mit der Rasenallee; auch er führt in gleicher Richtung am Hang des Habichtswaldes entlang – nur ein Stockwerk höher. Seine Strecke ist wesentlich länger. Nach circa 1/2 km kommen rechts die „Schwarzen Wiesen“, die zur Rasenallee abfallen. Linker Hand hingegen steigen die beiden großen Waldwiesen am Luftbad hinauf zum Wald – unterhalb der Elfbuchen. Während meiner Kindheit hatten meine Eltern die oberste Wiese 12 Jahre in Pacht. Für ausreichend Futter für das Vieh im Stall mußte ja gesorgt werden, obwohl diese Waldwiese nur einmal im Jahr gemäht werden konnte.

Von verschiedenen Stellen des Weges genießt man eine schöne Aussicht auf das Kasseler Becken mit seinen angrenzenden bewaldeten Höhen. Ehe man zum Silberborn kommt, wird der Sandweg überquert. Auch die Kohlenstraße am Silberborn ist noch nicht das Ende; der Weg reicht bis in das obere Ahnatal. Die Steigung ist überall gering.

Der 3. Reitweg überrascht mit seinem Beginn an den Kaskaden. Seine Streckenführung verläuft ähnlich – nur wieder ein Stockwerk höher‘. Unterhalb der Elfbuchen nimmt er seinen Weg und endet auf der Höhe der Kohlenstraße – unweit der heutigen Gaststätte am Silbersee. Die mehrfach wechselnde Waldlandschaft gestaltete auch diesen Reitweg sehr interessant und spendete den Menschen gesunde Luft, Ruhe und Erholung. In den vergangenen 70 Jahren wurden die Wege zum Teil als Holzabfuhrwege genutzt; für die Wanderer gewannen sie immer mehr an Bedeutung; auch die Waldläufer wählen in unseren Tagen gern diese Strecken. Die im Oktober 1991 aufgestellten Wegeschilder geben auch den Radfahrern besondere Rechte. Es ist an der Zeit – auch aus gesundheitlichen Gründen – die Zahl der Radfahrerwege laufend zu vergrößern. Im Vergleich zu früher hat der Reitsport heute nachgelassen.

Wenn in diesem Kurzbericht auf die drei Reitwege hingewiesen wird, dann muß aber auch noch auf die Bedeutung der Rasenallee zur kaiserlichen Zeit eingegangen werden. Vom Nordausgang des Wilhelmshöher Parkes bis zum Wilhelmsthaler Park hat die Allee genau eine Länge von 9 km. Die Mitglieder des Hofes legten diese Strecke gern vormittags zurück: mal ein Stück zu Fuß, mal hoch zu Roß, mal mit der Goldkutsche oder auch schon mal mit dem Auto.

Schon in der Frühe – morgens gegen 7 Uhr – kam das Arbeitskommando daher, dessen Aufgabe darin bestand, den Zustand der Allee einwandfrei herzurichten; d. h. Steine, Äste, Laub, Papier mußten beseitigt werden. Die Pappeln brachten ja auch viel Dreck mit sich. Die Allee trug noch keine Asphaltdecke, sie war noch eine wassergebundene Straße. Auf der unteren Straßenseite befand sich ein ca 1 92 m breiter Reitweg. Wenn an einem Morgen auf die Herrichtung besonderer Wert gelegt wurde, dann wußten wir, daß der Kaiser mit seinem Gefolge hoch zu Roß den Weg zurücklegen würde; und was die Pferde betraf: der Marstall beherbergte nur die schönsten Reitpferde! – Den drei Arbeitern half dann noch ein Pferd, das zwei Eggen zog. – Von Großraumabsperrungen war damals keine Rede. Als in jüngster Zeit der französische Staatspräsident auf der Allee zum Flughafen Calden fuhr, war wesentlich mehr Polizei im Einsatz als damals.

Der Rückweg geschah nicht immer auf der Rasenallee. Der Wilhelmsthaler Forst bot sich an, die Gemarkung Weimar, das Ahnatal und schließlich einer der bereits geschilderten Reitwege. Am Gasthaus „ZUM AHNATAL“ gab es z. B. einmal eine Begrüßung auf der Waldwiese zwischen der Kaiserin und der kleinen Gastwirtstochter Issi. Die Kleine überreichte der Kaiserin einen Waldblumenstrauß und erhielt später durch einen kaiserlichen Sonderkurier eine wertvolle Puppe mit Urkunde. Diese beiden Geschenke werden noch heute in dem Gasthaus in Glaskästen aufbewahrt.

Die Rasenallee war damals für Lastkraftwagen aller Art gesperrt; es gab keinen Durchgangsverkehr. An der Straßenkreuzung hingen an den Pappeln große Holzschilder mit eingebrannter Schrift. Das hatte zur Folge, daß z. B. der Sand, der zum Hausbau des Jägerhauses benötigt und von der Zeche Herkules geholt wurde, den Weg hinab auf der neuen Wolfhager Straße bis zur ‚Scharfen Kurve‘ und dann die Trift hinauf bis zu Allee nehmen mußte. Im Gebiet der Gemarkung Harleshausen gab es unmittelbar an die Rasenallee unterhalb noch eine kümmerliche Behelfsstraße, die von den Anliegern benutzt werden durfte. Ein Zustand, der heute kaum noch denkbar ist!